Die Regionalentwicklung in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern braucht Klarheit - Die zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ist überfällig

Gruppenantrag der Abgeordneten Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), Ernst Bahr (SPD) u.a., Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode.

Der Bundestag wolle beschließen:

                         I.          Der Deutsche Bundestag stellt fest:

 

                                           1.            Seit 1992 währt der Streit um eine militärische oder zivile Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide. Das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) beabsichtigt, auf dem Gelände des ehemaligen Bombenabwurfplatzes der sowjetischen Streitkräfte einen Luft-/Boden-Schießplatz einzurichten. Geplant sind bis zu 1700 Einsätze pro Jahr mit Übungsbomben und -munition. Eine breite Bürgerbewegung hat sich den Plänen der Bundesregierung von Anfang an widersetzt. Die Klagen etlicher Anrainergemeinden haben bisher die Inbetriebnahme des Platzes verhindert. Ein Ende des Rechtsstreits ist nicht absehbar. Die Landtage und Landesregierungen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern haben sich gegen die militärische Nutzung der Kyritz-Ruppiner Heide ausgesprochen.

 

                                           2.            Zur Gewährleistung ihrer Einsatzbereitschaft benötigt die Bundeswehr ausreichend Übungsplätze und -einrichtungen. Dieser Übungsbedarf ruft immer wieder einen Zielkonflikt mit dem Anspruch der Bevölkerung auf Lärm- und Gesundheitsschutz, mit Belangen des Umweltschutzes und der Regionalentwicklung hervor. Dabei gilt das Postulat, die Belastungen für Bevölkerung und Umwelt so gering wie möglich zu halten.

 

                                           3.            Der geplante Luft-/Boden-Schießplatz Wittstock ist für die Einsatzbereitschaft der Luftwaffe und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland keineswegs unverzichtbar. Seit 1990 kommt die Luftwaffe ohne den Standort Wittstock aus. Das Nutzungskonzept für Luft-/Boden-Schießplätze aus dem Jahr 1992, das für die Bedarfsanmeldung eines dritten Luft-/Boden-Schießplatzes mit entscheidend war, ging davon aus, dass von den geplanten 7.200 Übungseinsätzen 3200 in Nordhorn, 1000 in Siegenburg und 3000 im Raum Wittstock absolviert werden sollten. In Wirklichkeit ging seitdem das Übungsaufkommen massiv zurück. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland von Bundeswehr (764) und alliierten Streitkräften (273) insgesamt nur noch 1037 Einsätze, davon 799 in Nordhorn (1992: 2573) und 216 in Siegenburg (1992: 1260), geflogen. Der Bedarf für einen neuen Platz und die Belastungen für die beiden bisherigen Übungsplätze sind damit drastisch zurückgegangen. Im vergangenen Jahr wurde entschieden, bis 2005 zwei TORNADO-Geschwaderäquivalente (80-90 Flugzeuge) aufzulösen. Dies wird zu einer weiteren Reduzierung der Übungsbelastungen in Nordhorn und Siegenburg führen.

 

                                           4.            Für die Bundeswehr sind internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im Rahmen der Ziele und Regeln der Vereinten Nationen auf absehbare Zeit die wahrscheinlichere Aufgabe und primär strukturbestimmend. Die künftigen Einsatzkräfte der Bundeswehr sollen nach Stabilisierungs- und Eingreifkräften differenziert werden. Bei den vorrangigen Stabilisierungseinsätzen z.B. auf dem Balkan oder in Afghanistan sind nicht tieffliegende Jagdbomber gefragt. Bei Erzwingungs- und Kampfeinsätzen, die nicht ausgeschlossen werden können, ist die Abstands- und Präzisionsfähigkeit der Luftwaffe zwingend gefordert. Die Bekämpfung von Bodenzielen im Tiefflug mit ungelenkten Bomben gehört - insbesondere wegen des hohen Risikos - der Vergangenheit an. Grundmerkmal der künftigen Eingreifkräfte ist deshalb ihre präzise Abstandsfähigkeit. Mit der Umrüstung auf Abstandswaffen sinkt der Luft-/Boden-Übungsbedarf weiter auf eine Restgröße. Der in einigen Jahren zulaufende Eurofighter ist für seine Jagdbomberrolle nur noch mit Abstandswaffen ausgerüstet. Mittelfristig, das heißt im Laufe des nächsten Jahrzehnts, werden überdies "unbemannte Luftfahrzeuge" an Bedeutung gewinnen. Dafür ist kein neuer Übungsplatz notwendig. Auf den bisherigen Übungsplätzen kann die Übungsbelastung weiter sinken.

 

                                           5.            Luft-/Boden-Einsätze und militärischer Tiefflug rufen eine erhebliche und überdurchschnittliche Belastung für die betroffene Bevölkerung hervor. Das Argument einer gerechten Lastenverteilung des Übungslärms - hier zwischen West und Ost - geht an den historischen und aktuellen Besonderheiten der verschiedenen Regionen vorbei. Wenn eine Region in Deutschland einen berechtigten Anspruch auf Lastenverteilung hat, dann ist es die Region Kyritz-Ruppiner Heide. Die Übungsbelastung im Raum Wittstock war zu DDR-Zeiten bei bis zu 18000 Einsätzen pro Jahr mit scharfer Munition und Bomben so extrem und einzigartig, dass für die Bevölkerung der Region ein Nachholbedarf an unbelasteter Entwicklung besteht. Noch im Jahr 1992 flogen die russischen Luftstreitkräfte 5342 Einsätze. Die auf den ersten Blick plausible Forderung nach "gerechter" Lastenverteilung zwischen Ost und West läuft vor diesem Hintergrund auf eine fortgesetzte Sonderbelastung der Region Wittstock hinaus. Angesichts der Bedarfsanmeldung von bis zu 1700 Einsätzen von Alliierten und Bundeswehr bei einem derzeitigen IST von lediglich 1000 Einsätzen besteht vor Ort nicht zu Unrecht die Befürchtung, dass perspektivisch die Übungsplätze im Westen geschlossen und bislang im Ausland absolvierte Übungen von Bundeswehr und Bündnispartnern nach Wittstock verlagert werden könnten.

 

                                           6.            Die wesentliche Entwicklungschance der Region um die Kyritz-Ruppiner Heide besteht in einem naturnahen Tourismus und erfordert eine besondere Sensibilität gegenüber militärischem Fluglärm. Seit den 90er Jahren sind in der Region viele kleine Unternehmen entstanden, die vom Tourismus leben und oftmals über die regionale Schwerpunktförderung Starthilfen aus öffentlichen Mitteln erhielten. In den Jahren 1991 bis 2003 wurden 240 Mio. € GA- und EFRE-Mittel für die gewerbliche Wirtschaft und Infrastruktur der betroffenen Landkreise Ostprignitz-Ruppin, Müritz und Mecklenburg-Strelitz genehmigt. Damit konnten über 3000 Dauerarbeitsplätze gesichert werden. Zusätzlich flossen in diesem Zeitraum 160 Mio. € KfW-Mittel in die Tourismusentwicklung dieser Landkreise. Viele ortsansässige Unternehmer sehen sich durch die Pläne des BMVg in ihrer Existenz bedroht. Das vom Bund beigebrachte Lärmgutachten beruft sich auf das Fluglärmschutzgesetz von 1971. Es beachtet die neueren Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung nicht und ist deshalb als Nachweis der Vereinbarkeit von Luft-/Boden-Schießplatz und Tourismus unbrauchbar. Ein umfangreiches Lärmgutachten vom März 2004, das vom aktuellen Stand der Lärmwirkungsforschung ausgeht, kommt zu dem Ergebnis, dass für einen wesentlichen Teil der bewohnten Gebiete im nördlichen Bereich des Übungsplatzes die Grenzwerte der gesundheitlichen Zumutbarkeit aus lärmmedizinischer Sicht überschritten werden. (Gutachten Truppenübungsplatz Wittstock von Prof. Dr. Manfred Spreng)

 

                                           7.            Die Ungewissheit über die Zukunft der Heide ist ein wachsendes Investitionshemmnis und blockiert damit die Regionalentwicklung. Umfragen der Industrie- und Handelskammern Neubrandenburg und Potsdam in 2003 ergaben, dass mehr als dreiviertel der Unternehmer in der Region eine deutliche Verschlechterung der Geschäftsbedingungen infolge einer militärischen Nutzung erwarten. Damit verbunden sind die zurückhaltende Vergabe neuer Kredite durch Banken, Umsatzrückgang, Liquiditätsprobleme und die Rückstellung von Investitionen. Infolge dessen wird mit einem Abbau von Arbeitsplätzen gerechnet. Deshalb kann nicht auf den Ausgang des langjährigen Rechtsstreits gewartet werden.

 

                                           8.            Die Hoffnungen auf eine künftige neue Garnison Wittstock sind wenig realistisch. Das neue Stationierungskonzept der Bundeswehr, das für Ende des Jahres angekündigt ist, soll durch Schließung von ca. hundert Standorten erhebliche Finanzmittel einsparen. Das bringt für viele Regionen schmerzhafte Einschnitte mit sich. Vor diesem Hintergrund wäre die Neugründung eines Standortes in Wittstock für mindestens ca. 60 Mio. € nicht vertretbar. Ein solches Vorhaben würde von vorneherein die Glaubwürdigkeit des neuen Stationierungskonzeptes beschädigen.

 

                                           9.            Die Bundeswehr legt großen Wert auf ihre Integration in die Gesellschaft und auf zivilmilitärische Zusammenarbeit. Gerade in ihren Einsatzgebieten legt sie höchsten Wert auf breite Akzeptanz in der Bevölkerung und möglichst viel Kooperation. Eine konfrontative Durchsetzung des Luft-/Boden-Schießplatzes gegen den einmütigen Willen der Bevölkerung und ihren politischen Repräsentanten auf kommunaler und Landesebene würde diesen bewährten Grundsätzen völlig zuwider laufen.

 

                        II.          Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

 

                                           1.            ohne Zeitverzug auf einen künftigen Luft-/Boden-Schießplatz Wittstock zu verzichten und eine zivile Nutzung der Liegenschaft zu ermöglichen,

 

                                           2.            im Rahmen der Transformation der Bundeswehr die Übungseinsätze und Belastungen an den bisherigen Übungsplätzen weiter zu reduzieren,

 

                                           3.            im Rahmen eines abgestimmten Regionalentwicklungskonzeptes, das Land Brandenburg bei der Räumung der Munitionsaltlasten auf dem ehemaligen sowjetischen Übungsplatz angemessen zu unterstützen, soweit es im Rahmen eines abgestimmten Regionalentwicklungskonzeptes für Teilbereiche notwendig ist.