Horst-Eberhard Richter

 

Ostermarsch 2001 „Freie Heide“

Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Freundinnen und Freunde,

erlauben Sie mir zunächst ein Wort zu den Ärzten für Frieden und Soziale Verantwortung (IPPNW), die ich in Westdeutschland mitgegründet habe und deren Vorstand ich noch immer angehöre. Wie mir zu Ohren gekommen ist, nähren in den neuen Bundesländern einige den Verdacht, unsere Organisation sei vor der Vereinigung aus der DDR unterstützt worden. Gerade hat mir wieder ein Bürger geschrieben, dass er wegen dieses Verdachtes nicht mehr an den Ostermärschen teilnehmen wolle.

Tatsächlich ist diese Unterstellung absolut haltlos. Sogar der Bundesnachrichtendienst hat uns seinerzeit bescheinigt, dass wir in unserer ärztlichen Friedensorganisation jeden Versuch einer Unterwanderung oder Unterstützung aus dem Osten strikt abgewehrt hätten. Ich selbst wurde als jahrelanger Sprecher von der Stasi abgehört. Und in meiner Akte steht zu lesen: „Richter versucht durch Zusammenführung negativ-feindlicher Kräfte ein oppositionelle Bewegung in der medizinischen Intelligenz der DDR zu schaffen.“ Das war übertrieben. Richtig ist, dass ich u.a. verschiedentlich auf den Friedenswerkstätten in der Berliner Erlöserkirche mitgemacht habe, von denen ich jedes Mal stark beeindruckt nach Hause gefahren bin.

Im Januar 2000 fand wie alljährlich die Internationale Wehrkunde-Tagung in München statt, die neuerdings bezeichnenderweise Sicherheitskonferenz genannt wird. Einer der anwesenden Beobachter war Egon Bahr, seinerzeit Mitautor der Versöhnungspolitik Willy Brandts. Voller Entsetzen kehrte Bahr von der Konferenz zurück und berichtete mir am Telefon von einer sensationellen neuen Kriegsstrategie, die bei den Tagungsteilnehmern Bewunderung und nicht etwa Erschrecken hervorgerufen habe. Man werde demnächst durch eingeschleuste Computerviren schlagartig das gesamte Kommunikations- und Versorgungssystem eines Feindstaates lahm legen können. Das Zusammenleben in einem zivilisierten Land werde in einem sofortigen totalen Chaos untergehen.

Man kann fragen: Was unterscheidet den bestürzten Egon Bahr von der Mehrheit der Konferenz, die den Computerkrieg voller Genugtuung als sicherheitspolitischen Fortschritt lobte? Bahr reagierte noch mit offenen natürlichen Sinnen und registrierte in seinem Gefühl die Grausamkeit, die durch die technische Verfeinerung der Vernichtungsmittel nur maskiert wird. An diesem Beispiel wird deutlich: Der technische Fortschritt markiert nicht etwa eine angestiegene intellektuelle Beherrschung des Destruktionstriebes, sondern macht diesen nur durch Abspaltung von der Emotionalität unkenntlicher. Es entsteht die Einbildung, die maximale technische Verfeinerung der Vernichtungsenergie bedeute so etwas wie deren Zivilisierung. Ähnlich hatte man ja schon einmal die Neutronenbombe begrüßt, weil sie „nur“ die Menschen und nicht ihre Häuser vernichte.

Die Erfinder und Fürsprecher dieser neuen sogenannten Sicherheitstechnologie sind höchstwahrscheinlich ebenso kinder- und tierlebende Menschen wie wir alle. Sie existieren, wie es der amerikanische Psychiater Jay Lifton beschrieben hat, mit einem gespaltenen Selbst. Ihr eines Selbst erlebt völlig normal Freude, Liebe, Leid und Mitgefühl in der privaten Welt. Mit ihrem anderen Selbst sind sie in unbefangener Neugier und spannungsvollem Eifer in die Beschäftigung mit den neuen Vernichtungs-Technologien vertieft, ohne in irgendwelche Skrupel zu geraten. Vom Elend und Leid der mit diesen Mitteln bedrohten Menschen taucht nichts in ihren Gefühlen auf. Das wird nicht etwa als psychopathologischer Defekt erlebt, sondern als erwünschte perfekte Versachlichung bzw. Entemotionalisierung. In Wahrheit bedeutet diese Spaltung aber eine partielle Entmenschlichung. Während er mit der Modernisierung seiner Destruktionstechnologien ein höheres Zivilisationsniveau zu erreichen sich einbildet, gibt der Mensch in Wahrheit ein Stück Selbstverantwortung an die Technik ab.

Denn sie überholt mit dem Tempo ihrer Entwicklung aufgrund der beschriebenen Spaltung sein moralisches Selbstverständnis. Die Technik macht sich selbst, wie es der Philosoph Günter Anders einmal ausgedrückt hat, zum neuen Subjekt der Geschichte. Aber wie kommt die Technik dazu, blutige oder unblutige Massenvernichtungswaffen zu entwickeln und zu produzieren?

Darin verbirgt sich sehr wohl eine spezifische menschliche Haltung. Es ist eine Haltung, die ich verkürzend und vereinfachend als Anti-Frieden im Gegensatz zu einem Pro-Frieden bezeichne. Eigentlich ist es auch nur ein Noch-Frieden, weil die Mine zur Zündung schon bereit liegt. Erlauben Sie mir einen ganz kurzen sprachgeschichtlichen Seitenblick zur besseren Erläuterung der Differenzierung. Das Wort Frieden hat eine doppelte Wurzel. Die eine Komponente verweist auf ein Pro, nämlich durch die Verwandtschaft mit Freude und Freundschaft. Die andere birgt in sich ein Anti, ein Dagegen, im Sinne von Ein-Friedung, von Einzäunung und Schutz gegen draußen. Auf die Praxis angewandt, kommt im einen Fall der Frieden des Vertrauens und der gemeinsamen Sicherheit heraus, im anderen der labile Anti-Frieden, der eines gepanzerten und möglicherweise waffenstarrenden Misstrauens.

Der klassische Anti-Frieden war der atomare Wettlauf der 80er Jahre nach dem Prinzip, dass nur eine zumindest gleichhohe, wenn nicht überlegene Bedrohung des Gegners die eigene Seite vor Vernichtung schützen könne. Der krankhafte Charakter dieses Konzepts veranlasste damals sogar den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Perez des Cuellar, von einem Wahn zu sprechen. Dies wurde bald zu einem leeren Modewort. Denn ein allgemeiner Zustand, der sich nicht als auffällig von einem kontrastierenden Hintergrund abhob – der war natürlich im statistischen Sinne normal. Aber die Angst, dass er vielleicht doch verrückt und gefährlich sein könnte, bekamen damals wir Friedensärzte und alle Gruppen der Friedensbewegung zu spüren, nämlich in der Abreaktion an uns als angeblichen Panikmachern und vermeintlichen Kommunistenfreunden.

Die psychologische Wurzel des Anti-Friedens ist also ein tiefsitzender Argwohn, der aber eben nicht als eigene Disposition durchschaut, sondern ausschließlich von der Gegenseite her begründet wird. Die Verbindung mit den Merkmalen des Ethnozentrismus liegt auf der Hand. Die Krankheit der wechselseitigen tödlichen Raketenbedrohung erwies sich seinerzeit glücklicherweise als therapierbar. Nämlich verhältnismäßig einfach dadurch, dass ein Michail Gorbatschow bereits 1985, noch ohne wirtschaftlich zur Rüstungsschrumpfung gezwungen zu sein, auf einen Frieden der humanisierten Beziehungen, also auf einen Pro-Frieden zusteuerte. Er nahm Egon Bahrs Gedanken von der gemeinsamen Sicherheit auf, der uns schließlich alle von dem Horror der eskalierten wechselseitigen Vernichtungsbedrohung momentan befreite. Vorläufig.

Denn die Wahnbereitschaft war damit keineswegs durchschaut oder gar kuriert. Es war nur so etwas wie eine Symptomheilung, weil dem gewaltbereiten Misstrauen vorübergehend der Feind fehlte, an dem es sich festmachen konnte. Aber der Argwohn benahm sich wie ein Drang, der seine vorläufige „Arbeitslosigkeit“ schwer ertrug und deshalb Ausschau nach geeigneten neuen Bedrohungsszenarien hielt. Prompt fand sich dann auch ein Saddam Hussein, später waren es die Clan-Führer in Somalia, schließlich Karadciz und Milosevic, fraglos allesamt rücksichtslose Despoten wie manche andere Diktatoren dieser Welt, jedenfalls böse genug, um gegen jeden die nötige Kriegsstimmung anzuheizen. Aber selbst heute, da nun einmal tatsächlich kein echter, nicht einmal ein als solcher aufzublähender Weltfeind in Sicht ist und sogar Korea aus der Schurkenstaat-Rolle entlassen werden muss, geht die Entwicklung und Modernisierung von Massenvernichtungswaffen und die Arbeit an neuartigen Vernichtungsstrategien unvermindert weiter. Im boomenden Rüstungshandel hält nach wie vor das Land mit Abstand die Spitze, das am wenigsten gefährdet ist und logischerweise mit eigener energischer atomarer Abrüstung vorangehen müsste. Wer je an der Abartigkeit dieser neurotischen Unfriedlichkeit gezweifelt hat, dem sollten jetzt die Augen aufgehen, wenn er in einer Rede des Ex-Oberkommandierenden der US-Kernwaffen-Streitkräfte den Satz liest: „Die führenden Politiker der Kernwaffenstaaten laufen heute Gefahr, von künftigen Historikern als ihres Zeitalters unwürdig beurteilt zu werden, ...weil sie das nukleare Wettrüsten auf der Erde wieder in Gang gesetzt haben und die Menschheit dazu verdammen, unter dem ständigen Damoklesschwert der Angst zu leben.“

Es lässt sich darüber nachsinnen, ob die Selbstdefinition als permanentes Opfer von Bedrohungen zur Rechtfertigung eigener Gewaltbereitschaft nur auf dem einfachen Mechanismus der Projektion verleugneter Aggressivität beruht oder ob diese Haltung nicht aus tieferen Wurzeln gespeist wird, nämlich aus dem Verhaftetsein der Männergesellschaften in jenem mythischen Komplex, der eigentlich die pubertäre Krisenphase der ödipalen Verwirrung charakterisiert, wozu die Phantasie gehört, sich nur durch Bewährung in Szenarien von High Noon- oder James Bond-Art eigener männlicher Vollwertigkeit versichern zu können. Aber vielleicht greifen Deutungsversuche dieser Art noch zu kurz. Vielleicht haben wir es nach dem Mittelalter immer noch in unseren Völkern mit der Angst zu tun, die verlorene Glaubenssicherheit und Geborgenheitsgewissheit nur ewig im Kampf um neue Siege gegeneinander und über die Naturgewalten kompensieren zu müssen.

Genau diese Sorge, aber auch eine vorsichtige Hoffnung, hat Christa Wolf ihrer Kassandra in ihrem so betitelten Roman in den Mund gelegt. Die warnt die Eroberer von Troja: „Ich sage ihnen: Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehn. Der Wagenlenker: Gestatte eine Frage, Seherin. – Frag. – Du glaubst nicht dran. – Woran. – Dass wir zu siegen aufhörn können. – Ich weiß von keinem Sieger, der es konnte . – So ist, wenn Sieg auf Sieg am Ende Untergang bedeutet, der Untergang in unsere Natur gelegt.
Die Frage aller Fragen. Was für ein kluger Mann. Komm näher, Wagenlenker. Hör zu. Ich glaube, dass wir unsere Natur nicht kennen. Dass ich nicht alles weiß. So mag es, in der Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen.“

M.D.u.H. Genau diese Hoffnung wollen wir in der Friedensbewegung wach halten. Nämlich die Hoffnung auf eine schrittweise Überwindung des fatalen ewigen Siegen-Müssens über Bedrohungen, die eigener Argwohn erst dämonisiert, um in einem ewigen Zirkel neue Aufrüstung zu legitimieren.

Liebe Freundinnen und Freunde,

die Fortsetzung unserer gemeinsamen Arbeit in der Friedensbewegung ist nicht nur wichtig, sondern unverzichtbar. Der unermüdliche Widerstand der Gruppen für eine „Freie Heide“ ist beispielhaft und bedeutet eine wichtige Ermutigung für viele. Der Erfolg vor Gericht ist ein Markstein, aber Sie wissen selbst, dass weitere Auseinandersetzungen bevorstehen, deren Ausgang sehr von spürbarem Druck aus der Bevölkerung beeinflusst werden wird. Aktionen wie „Freie Heide“ setzen Zeichen, dass diese Republik nicht den Weg fortsetzen darf, den sie mit den rechtswidrigen Mitbombardierungen in Jugoslawien beschritten hat. Wer je daran zweifelte, dass dieser Krieg den Balkanvölkern den zugesagten Frieden keinen Schritt näher bringen würde, blicke auf Mazedonien und die nur oberflächlich unterdrückte Gewalt im Kosovo.

Kaum ist der neue amerikanische Präsident im Amt, schürt er Spannungen, wo es schon Beruhigungsanzeichen gab. Er bombt im Irak, stoppt die Gespräche mit Nordkorea, brüskiert Russland und China. Das Raketenabwehrsystem will er gegen alle Bedenken durchpauken, - alles Zeichen für eine Wendung zu einem neuen labilen Anti-Frieden und zur Präparierung neuer oder alter potentieller „Schurkenstaaten“.

Was ist mit diesen Europa, in dem die Bundesrepublik eine gewichtige Stimme hat, dass es eifrig an Eingreiftruppen bastelt, aber sich fürchtet, den USA jetzt, da noch Zeit zur Verhütung von Schlimmerem wäre, offen die Meinung zu sagen?

Es ist leicht, achtlos in einen neuen Kalten Krieg hineinzugleiten, aber ungleich schwerer, wie erlebt, aus einem solchen wieder gewaltlos auszusteigen. Darum müssen wir in der Friedensbewegung den Mund aufmachen und diejenigen drängen, die demnächst in unserem Lande gewählt werden wollen, eindeutig Farbe zu bekennen. Ohne Rückkehr zu einer standhaften und eindeutigen Friedenspolitik würde diese Bundesrepublik kläglich an ihrer historischen Aufgabe versagen, vor die sie nach dem furchtbaren Elend, das Deutschland in zwei Weltkriegen angerichtet hat, unausweichlich gestellt ist.