23. Protestwanderung
4. September 1994
Ansprache in der Kirche
Flecken Zechlin
Pfarrer Horst Kasner
Liebe Freundinnen und
Freunde,
Ich komme aus Templin. Es
hätte auch uns treffen können: In der Tangersdorfer Heide ein Schießplatz, in
Groß Dölln ein Flugplatz der Bundeswehr wie zuvor für die sowjetische Armee.
Stattdessen genießen wir den Vorzug einer ungestörten Landschaft und haben die
Möglichkeit, unsere Region zu einem Kur- und Erholungsgebiet zu entwickeln.
Können wir es uns dabei einfach gut sein lassen? Wir leben nicht weit entfernt
von Ihnen. Sollten nicht Menschen auch aus unserer Gegend bereit sein, Sie bei
Ihrer Bürgerinitiative "FREIe HEIDe" zu unterstützen? Ich selbst habe
mich lange zurückgehalten, ehe ich mich am 6. August zum ersten Mal zur Kyritz-Ruppiner
Heide auf den Weg begab. Und als ich mich bereit erklärte, heute mit Ihnen ein
Wort aus der christlichen Glaubensüberlieferung zu bedenken, da fiel mir sehr
bald ein Wort aus dem "Neuen
Testament", ein Wort aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom
ein, das am Anfang des 12. Kapitels steht:
„Lasst euch nicht
gleichschalten dieser Weltzeit, lasst euch vielmehr umgestalten durch
die Erneuerung des Denkens, um entscheiden (zu können),
was der Wille Gottes ist:
Das Gute
und das Wohlgefällige und Vollkommene .“
Wir erinnern uns: Als 1989
die Mauer fiel, da riefen die Menschen in Berlin: "Wahnsinn!" Verständlich. Doch eigentlich hätten
sie rufen müssen: "Endlich Normalität!" Inzwischen ist uns
längst bewusst geworden: Offene Grenzen - das ist normal. Zu DDR-Zeiten aber hatten wir uns nach Jahrzehnten
des Eingesperrtseins an diesen Zustand gewöhnt; hielten die Mauer für etwas
Normales. Jahre zuvor in einem Gespräch hatte mich ein Kollege gefragt:
"Sie wollen doch nicht etwa sagen, die Mauer muss weg?" Und ich hatte
Mühe, es frei und offen auszusprechen: "Ja, die Mauer muss weg." Der
Wahnsinn war zur Normalität geworden, und das Normale zum Wahnsinn. Die
Anpassung an das Gegebene scheint normal zu sein. Und darum bedarf es immer
wieder der Aufforderung: "Lasst euch nicht gleichschalten dieser Weltzeit,
lasst euch vielmehr umgestalten durch die Erneuerung des Denkens."
Dieser ehemalige
"Kriegsschauplatz" in der Kyritz-Ruppiner-Heide muss nun wieder eine normale Landschaft werden. Wer das
fordert, ist normal. Und wer hier Bomben abwerfen will, ist wahnsinnig. Nun
gibt es Leute, die argumentieren: So lange es die Bundeswehr gibt, muss es
militärische Übungen geben; Schießen und Bombenabwurf. Sie halten das für normal.
Da sagen manche von denen, die davon betroffen sind:
"Wenn schon, dann aber nicht bei uns. Hier ist ein Erholungsgebiet. Wenn
hier militärische Übungen stattfinden, dann werden sich
Investoren zurückziehen,
Touristen und Urlauber wegbleiben.“
Auch das ist Wahnsinn; denn
wer will schon diese schreckliche Belästigung in seiner Nähe haben?
Ich behaupte, das Argument, militärische Kriegsübungen
müssen sein, das ist der Wahnsinn der Normalität. An folgendem mag das deutlich
werden. Das renommierte Worldwatch-Institut sagt für die kommenden Jahrzehnte
weltweite Hungersnöte voraus. Die vorrangige Bedrohung unserer Zukunft sei
nicht militärischer, sondern wirtschaftlicher Art. Für die zunehmende
Weltbevölkerung bestehe
ein Mangel an Lebensmitteln. Die Berechnungen gehen von 9 Milliarden Bewohnern
der Erde im Jahre 2030 aus. Die vorhandenen Ackerflächen und Wasservorräte
werden nicht ausreichen, um alle zu ernähren. Der Kampf um Nahrungsmittel wird
die Preise in die Höhe treiben. Worldwatch fordert eine massive Umorientierung hinsichtlich der Prioritäten. Mit einem
"Wechsel" - so das Wahlmotto der SPD - ist es nicht
getan. In der Politik steht eine Wende an. Um des künftigen Friedens
willen in der Welt brauchen wir nicht Bomben, sondern Brot. Zu kostbar
ist diese Heidelandschaft, um sie als Zielgebiet für Bombenabwürfe zu
missbrauchen. Warum wird das von den politisch Verantwortlichen nicht erkannt?
Für die heute fälligen
politischen Entscheidungen ist ein hohes Maß an Intelligenz erforderlich. Dem
sind Politiker in der Regel nicht
gewachsen. Ihr geistiger Horizont, das wird mir immer wieder deutlich, ist
begrenzt. Sie sind mehr Macher als Denker. Und vor allem verstehen sie sich auf
die Macht: Wie kommt man zur Macht? Wie bleibt man an der Macht? Es ist kaum zu
erwarten, dass ein Mann wie Herr Rühe, von Beruf Studienrat, die politischen
Erfordernisse im Welthorizont überblickt. Da sind wir als Bürger aufgerufen,
uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen, gemeinsam darüber nachzudenken, worauf es jetzt
ankommt.
Bomben auf die Kyritz-Ruppiner-Heide - das ist Wahnsinn! Wenn wir fordern: Kein Bombenabwurf
hier und andernorts, sondern Brot und Wasser
für alle Menschen auf der Erde - dann sind wir nicht
wahnsinnig, sondern normal. Es sei denn, wir
hielten es für die Normalität, uns den eigenen Wohlstand zu erhalten und
bereiteten uns darauf vor, das Privileg, zu den Reichen dieser Erde zu gehören,
gegen den Ansturm der armen Völker dann auch mit militärischen Mitteln zu
verteidigen. Ich komme nicht umhin zu vermuten, in den Köpfen von Politikern
und Militärs aber auch Wirtschaftsführern werde dieser Ernstfall bedacht.
Wir müssen davon ausgehen,
vieles von dem, was heute noch als normal angesehen wird, ist eigentlich
Wahnsinn. Nach Angaben der "Internationalen
Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges" (IPPNW) gibt es weltweit 48.000 Atombomben
mit einer Sprengkraft von 900.000 Hiroshima-Bomben. Das ist Wahnsinn. Aber von
sogenannten intelligenten Menschen erdacht und vollbracht. Und die Folge der Atomtests: 430.000 Krebstote bis zum Ende
dieses Jahrhunderts.
In 100 Jahren, so wird angenommen, werden es dann 2,4 Millionen Menschen sein. Und
die Mehrheit der Menschen nimmt das hin,
als sei das normal. Das ist der Wahnsinn der Normalität. Nichts brauchen wir
dringender als die Erneuerung unseres Denkens! Immerhin:
Dem Weltgerichtshof liegt jetzt ein Antrag vor, schon
den Besitz von Atomwaffen' als völkerrechtswidrig zu erklären. Das wäre das
Normale.
Mit dem Umbruch von 1989 ist alles in Bewegung
geraten. In der Politik aber scheint alles beim alten zu bleiben oder zu
versteinerten Verhältnissen zurückzukehren, wo doch dringend etwas Neues
passieren müsste. Aber man scheut den Aufbruch zu neuen Ufern: Die politische
Klasse ist ratlos, die Etablierten sind auf Besitzstandswahrung bedacht. Der Zerfall der
bipolaren Weltordnung des 20.
Jahrhunderts, symbolisiert im Fall der Mauer, hat eine neue Wirklichkeit
erfahrbar gemacht: Die Weltgesellschaft. Dieser neuen Wirklichkeit zu
entsprechen, das muss uns klar sein, wird von uns Verzicht fordern.
Wir müssen uns unserer selbst bewusster werden. Wir dürfen uns nicht
einreden lassen, wir hätten keine Macht. Darum zum Schluss ein Poem von Kurt
Marti:
machtverhältnisse
die
ohne macht
machen
die
mächtigen
was
machten
die
mächtigen
machten
die ohne macht
nicht
was die mächtigen
machen?
mächtiger sind
als die mächtigen
die ohne macht